Die Zukunft des Rechtsinstituts der Großen Haverei (Havarie-grosse)

Dissertation: Nicolas Schüngel, Die Zukunft des Rechtsinstituts der Großen Haverei, Schriften zum Wirtschaftsrecht, Duncker & Humblot, Berlin 2019.

Bei Megacontainerschiffen sind Große Havereien regelmäßig sehr aufwändig abzuwickeln und damit kostenintensiv. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, ob das Rechtsinstitut in Anbetracht des modernen Seehandels und der Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs noch zeitgemäß ist und welche alternativen Lösungen des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts bestehen. Im Ergebnis wird die sukzessive Abschaffung der Großen Haverei befürwortet. Lösungen für die Zukunft werden aufgezeigt.

Kurzfassung

Die Dissertation untersucht die Zukunft des Rechtsinstituts der Großen Haverei (Havarie-grosse) und befürwortet im Ergebnis eine sukzessive Abschaffung. Untersucht wird, ob das Rechtsinstitut in seiner Ausgestaltung durch §§ 588 ff. Handelsgesetzbuch (HGB) sowie die international regelmäßig in die Verträge einbezogenen York-Antwerpener Regeln (YAR) 2016 in Anbetracht des modernen Seehandels und der Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs noch zeitgemäß ist und welche alternativen Lösungen des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts bestehen. Diese Forschungsfrage stellt sich ganz besonders in Anbetracht von Megacontainerschiffen, bei denen Große Havereien regelmäßig sehr aufwändig und damit kostenintensiv sind.

Die theoretische Arbeit bereitet hinsichtlich der Großen Haverei die Grundlage für die zukünftige legislative Gestaltung des Seehandelsrechts, für die zukünftige vertragliche Gestaltung von Frachtverträgen und Versicherungsverträgen sowie für die weitere Diskussion über Veränderungen der YAR. Die vorliegende Dissertation wendet sich damit an Wissenschaft und Praxis im Bereich des Seehandels- und Seeversicherungsrechts sowie an interessierte Wirtschaftskreise, insbesondere Schiffskasko- und Güterversicherer, Reeder, Verfrachter und Befrachter. Außerdem wendet sich die Arbeit an den deutschen Gesetzgeber, insoweit ein Änderungsbedarf aufgezeigt wird.

Um die notwendigen Grundlagen für die weitere Untersuchung zu schaffen, führt die Arbeit im Überblick in die Geschichte des Rechtsinstituts ein und stellt den aktuellen Regelungsinhalt systematisch rechtsquellenübergreifend dar, sodass auch die Unterschiede zwischen HGB und YAR deutlich werden. Dabei wird auf bestehende Auslegungsprobleme und Streitfragen eingegangen und die Diskussion um neue Ansichten ergänzt. Auch eine rechtsdogmatische Einordnung wird vorgenommen. Ausführlich behandelt werden beispielsweise Probleme im Zusammenhang mit der Relativität der Schuldverhältnisse und mit dem neu eingeführten Treibstoffbegriff. Da Verschulden sehr häufig bei Großen Havereien eine Rolle spielt, wird der Verschuldensaspekt in einem Schwerpunkt behandelt.

Die Arbeit verlässt die rein seehandelsrechtliche Perspektive und bezieht die Seeversicherung mit ein, da diese bei der Regulierung Großer Havereien die zentrale Rolle spielt und nur so ein vollständiges Bild gezeichnet werden kann. Die Versicherung der Großen Haverei wird insbesondere am Beispiel der DTV-ADS 2009 für die Schiffskaskoversicherung und der DTV-Güter 2000/2011 für die Güterversicherung untersucht.

Einen Schwerpunkt bildet die Untersuchung der Rechtfertigung und Funktion des Rechtsinstituts in Verbindung mit der anschließenden kritischen Analyse des Rechtsinstituts. Maßstab sind dabei die Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs hinsichtlich eines wirtschaftlichen Gütertransports.

Auch wenn die Arbeit die Forschungsfrage aus einer deutschen Perspektive betrachtet, werden umfassend internationale Forschungsbeiträge zum Thema ausgewertet, wodurch ermöglicht wird, das Rechtsinstitut in neuem Licht zu sehen. Dieser Ansatz wird auch der Rolle der Großen Haverei als international stark vereinheitlichtes Rechtsinstitut gerecht. An geeigneten Stellen finden sich rechtsvergleichende Betrachtungen, insbesondere zum Recht Österreichs und der Schweiz, Englands und der USA, Nordeuropas (Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden) und der weiteren Nordseeanrainerstaaten (Belgien, Frankreich und die Niederlande). Es werden zudem Erkenntnisse aus der ökonomischen Analyse des Rechts für das Thema fruchtbar gemacht. Die Theorie wird ergänzt durch die in der Diskussion zu wenig beachtete Einbeziehung statistischer Daten, insbesondere der von Matthew Marshall veröffentlichten Studien zur Großen Haverei.

Ergebnis der Untersuchung ist, dass die Nachteile die Vorteile der Großen Haverei (Havarie-grosse) überwiegen – besonders bei Containerschiffen. Sollen Risiken wirtschaftlich beherrschbar gemacht werden, sind Versicherungen das geeignete Instrument, und soll Verhaltenssteuerung erreicht werden, dann ist das Haftungsrecht das geeignete Instrument. Besonders gravierend ist der Umstand, dass die Große Haverei die Präventionsfunktion des Haftungsrechts schwächt und Missbrauchsrisiken bestehen. Es kann kein echtes Bedürfnis nach dem Rechtsinstitut der Großen Haverei ausgemacht werden. Vielmehr sollte ein Vertrags- und Gesetzesrecht geschaffen werden, aus dem die Große Haverei perspektivisch verdrängt wird (sukzessive Abschaffung).

In der Arbeit werden daher erstmals eingehend die Auswirkungen eines Verzichts untersucht. Der Lösungsteil zeigt auf, welche Gestaltungen zukünftig möglich und sinnvoll sind. Es wird empfohlen, das Rechtsinstitut im HGB zu einem vertraglichen Schuldverhältnis umzugestalten und die gesetzliche Regelung im Grundsatz auf einen statischen Verweis auf die YAR 2016 zu reduzieren. Außerdem werden Veränderungs- und Vereinfachungsmöglichkeiten aufgezeigt und bewertet. Für Frachtverträge werden unter anderem Bagatellgrenzen vorgeschlagen. Schwerpunkt bilden Versicherungslösungen, insbesondere sogenannte Absorption Clauses und die Versicherung aller Havereibeiträge durch den Reeder gegen Frachtaufschlag.